Hildburghäuser Geschichte
www.dunkelgraefinhbn.de oder www.schildburghausen.de

Deicke, Günther


 xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx  xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx






Günther Deicke

* 21.10.1922, Hildburghausen

† 14.06.2006, Mariánské Lázně (Marienbad – Tschechien, Kuraufenthalt)




Lyriker, Librettist, Lektor, Herausgeber, Redakteur

„Kampf und Widersprüche sind stärkere Farben als Frieden und Zuversicht.“

Deicke besucht das Gymnasium Georgianum Hildburghausen und ist 1941 bis 1945 Marinesoldat im Zweiten Weltkrieg, seit 1940 NSDAP-Mitglied.

Seit 1949 ist er Kulturredakteur in Weimar, 1951 – 1952 Verlagslektor in Ost-Berlin, 1959 – 1970 arbeitet er für die Literaturzeitschrift „ndl“ (neue deutsche literatur). Er gehört zu den meistgelesenen Lyrikern und ist für mehrere angesehene Verlage tätig (Aufbau Verlag, Verlag der Nationen, Volk und Welt, neue deutsche literatur, Sinn und Form).

Seit 1970 ist er freischaffender Schriftsteller, zudem Mitglied der Akademie der Künste der DDR und des P.E.N.-Zentrums Deutschland. 1964 wird er mit dem „Heinrich-Heine-Preis“ und mit der Attila-József-Plakette des P.E.N.-Zentrums Ungarns ausgezeichnet. 1970 erhält er den Nationalpreis der DDR, 1968 und 1977 den Kritiker-Preis der „Berliner Zeitung“.

Deicke ist aktives Mitglied der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft und Ehrenmitglied des ungarischen Schriftstellerverbandes gewesen.

Werke (Auswahl):
Liebe in unseren Tagen (1954), Deutschland – es werden deine Mauern nicht mehr voll Jammer stehen – Gryphius-Auswahl, Tagebuch für Anne Frank (1959, Dokumentation mit J. Hellwig), Wenn der Wacholder blüht (Oratorium, vertont von R. Zechlin), Anthologien: Deutsches Gedichtbuch (1959), Die Wolken (Gedichte, 1966), Lyrik der DDR (1970), Ortsbestimmung (Gedichte, 1972), Libretto für die Oper Esther (Musik von R. Hanell nach einer Novelle von Bruno Apitz) (1975), Dass der Mensch ein Mensch sei, ein poetische Dialog in Bild und Wort, mit Michail Trachmann
1981 Das Chagrinleder (Opernlibretto für Fritz Geißler), Mitarbeit an Thüringen. Ein Reiseverführer (1977).

 

Günther Deicke

Schulzeit in der Stadt der Schulen 

Ach, viel ist versunken, vergessen
von jenem ersten Jahrzehnt.
Was wir damals besessen,
was wir damals ersehnt,
lief mit uns über die Wiesen
und ging ins Vergangene ein.
Nur wenn wir die Augen schließen,
vielleicht noch, sehn wir uns klein. 

In meiner Erinnerung liegt Hildburghausen inmitten von Wiesen. Die standen im Frühling voller Butterblumen, im Sommer voller Margeriten und Glockenblumen, die wir von unseren Ausflügen mit nach Hause brachten, die Felder waren mit Kornblumen gesäumt. An der Galgenspitze, wo der Stadtwald beginnt, pflückten wir Zittergras, im Muschelkalk des Stadtbergs, des Krautbergs und der Stirn, auf den Werrabergen also, wuchs die blaue Kuhschelle. Auf dem Häselriether Berg fanden wir Waldmeister für die Maibowle, in der Goldbachaue blühten im Frühling Trollblumen, und im weitausgedehnten Sandsteingebiet des Stadtwalds, der dann nach Wiedersbach und Gerhardtsgereuth zu mit einem Hopser in den Thüringer Wald übergeht, gab es massenhaft Heidelbeeren und Pilze.

Mir kommt es vor, als wären wir das ganze Jahr über mit Sammeln beschäftigt gewesen, denn die Landschaft quoll auch über von Heilkräuter, Tees, die auf dem Hausboden getrocknet wurden: Schafgarbe, Erdbeerblätter, Odermennig, Huflattich, Lindenblüten, Holunderblüten, Pfefferminze, Kamille – keine Kinderkrankheit ohne Kräutertee. Und Wildfrüchten: Walderdbeeren, Heidelbeeren, Preiselbeeren, Hagebutten, Himbeeren, Brombeeren, Holunderbeeren – damit wir gut durch den Winter kamen. Nicht zu reden von den Kirschen, den Äpfeln, den Birnen, die an den Straßenseiten wuchsen und verpachtet waren und manchmal bewacht wurden. Und Mundraub war nicht strafbar. Aber wenn der Pächter kam, scherte er sich samt seinem Knüppel den Teufel um das Bürgerliche Gesetzbuch. Da mussten wir flink sein.
Ach, worauf habe ich mich nur eingelassen!
Man soll nicht schreiben wollen über das, was man – oft irrtümlicherweise – Heimat nennt, nur, weil man seine Kindheit und einen Teil der Jugend hier verbracht hat. Da kehrt man zurück, nach Jahren und Jahrzehnten, aber den Straßengraben der Kinderseligkeit findet man doch nicht wieder. Und gerade der wäre wichtig gewesen, um sich zu erinnern. Und der Schlittenberg über der Goldbachaue ist parzelliert, vielfältig umzäunt. Kinder, wohin geht ihr, wenn's schneit?
Von der Galgenspitze aus sieht man die Stadt noch so schön und breit im Werratal liegen wie ehemals. Sie ist sogar noch ein bisschen breiter geworden, und das steht ihr auch zu – denn sie war eine der berühmtesten Städte der Welt. ( ... )
Erst einmal bummle ich noch durch die Straßen. Da ist viel geblieben oder schön wiederhergerichtet worden. Da hat sich manches verändert. Ich erinnere mich an den Witz eines Zirkusclowns aus meiner Kindheit: „Welche Stadt hat die beste Aussicht?“ Spannung – man war auf einen Witz gefasst. „Hildburghausen!“ Na also, ein Witz; denn Hildburghausen liegt im Tal. Zaghaftes Gelächter. „Hildburghausen hat die beste Aussicht, ein neues Straßenpflaster zu kriegen." Brüllendes Gelächter, Beifall. Markt und Marktstraßen von Hildburghausen hatten sicherlich das schrecklichste Katzenkopfpflaster der Welt, als hätten es Stellmacher und Fahrradmechaniker zur Belebung ihres Handwerks erfunden. Da war ich etwa acht Jahre alt. Als ich achtzehnjährig die Stadt verließ, war das Pflaster noch immer das gleiche. Das Schloss in der Stadt, das immer ausgesehen hatte wie eine Kaserne, war wirklich Kaserne geworden, und alle Aussichten waren brillant wie die herrlichen Zeiten, denen man uns hatte entgegenführen wollen.
Das Schloss ist verschwunden, ( ... ) am letzten Kriegstag zerstört, und niemand hat es zum Glück wieder aufgebaut. Das Straßenpflaster ist im Stadtkern erneuert worden, und man kommt ohne Achsenbruch auf den Markt. Die Buchhandlung auf dem Markt gibt es nicht mehr; das war ein schmaler, finsterer Laden, der auch Schiefertafeln und Schreibzeug und Radiergummis und Abziehbilder verkaufte. Dort habe ich als Oberschüler mit Herzklopfen gestöbert und meine ersten Gedichtbücher gekauft: eine gewichtige Anthologie, Balladen, ein paar Einzelbändchen ( ... ) Die neue Volksbuchhandlung am Puschkinplatz ist wenigstens viermal so groß, sie ist herrlich übersichtlich geordnet nach Sachgruppen und nach dem Alphabet, und sie hat ein geradezu hauptstädtisches Angebot. Nur Gedichtbücher habe ich in dieser chemisch gereinigten Kaufhalle nicht gefunden. Waren sie etwa gerade ausverkauft?
Aber auch andere Häuser, die uns lieb waren, betreten wir später nie wieder, wenn wir sie einmal verlassen haben. Das Haus der Großeltern, das Haus der Kindheit.

Steht noch das Haus der Kindheit?
Ruft das Glöckchen noch immer nach Haus?
Über den Jahren der Blindheit
schwingt sein Läuten aus.

Da war der Sommer ewig

im Tal den Fluss entlang,

da war der Winter ewig

am weißen Schlittenhang.


Hat sich die Welt erneuert

mit jedem neuen Jahr?

Groß stand der Tag im Feuer

und unverwechselbar.


Und wie der Kinderglaube
von einer Wiederkehr
winkt noch der Flug der Taube
von Noahs Arche her.

( ... ) Das Haus meiner Kindheit steht noch, von unserm Küchenfenster hatte man den herrlichsten Blick über die ganze Stadt. Auch Ferdinands Scheune in unserer Straße steht noch wunderbarerweise. Ferdinand war ein Original, er verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Holzhacken, meist nur für die Mahlzeit. Und mein Vater erzählte folgende Geschichte: Ferdinand hatte für den Wirt vom „Grünen Baum“ Holz gehackt und war zum Mittagessen gebeten worden. Es gab Rohe Klöße – in der Umgegend nördlich der Werra auch Grüne Klöße, südlich der Werra auch Hüts genannt. Ferdinand aß, von der wachsenden Bewunderung der Gäste begleitet, elf Stück. Als der Wirt ihn nun scherzhaft aufforderte, doch noch einen Kloß zu essen – denn es wäre vielleicht der Weltrekord, wenigstens aber der Stadtrekord gewesen –, antwortete Ferdinand bescheiden: „Ach, naa – mer mag ja net unverschaamt g'sei.“

Der „Grüne Baum“, der ist auch nicht mehr da, das Haus gegenüber dem „Haus der Dunkelgräfin“ steht freilich noch, und wer die bunten Butzenscheiben im Erdgeschoss sieht, der mag ahnen, dass das eine der schönsten Kneipen der Stadt war. Hier habe ich den ersten Schnaps meines Lebens getrunken, als fünfzehnjähriger Oberschüler, es war ein Kümmel, und er schmeckte so grässlich, dass ich für die kommenden Jahre abstinent blieb.
Ein anderes, ein ganz bestimmtes Haus gibt es auch noch, darin ein bestimmtes Fenster im oberen Stock – dahinter habe ich ein paar unvergessliche Stunden mit meiner Jugendfreundin auf einem Sofa gelegen und geküsst ...
Man geht vorüber, und aus dem Fenster sieht ein fremdes Gesicht. Man ist ein Fremder geworden. Aber was hat man sich denn gedacht? Man kann nicht sein Leben im Straßengraben der Kindheit verbringen – welch kindische Idee!
In der Joseph-Meyer-Bibliothek in der Johann-Sebastian-Bach-Straße – ich habe größere Bibliotheken gesehen, aber schönere kaum –, wo ich also einstmals lesen lernte, dort gibt es eine Bibliothekarin, die über einen ganzen Berg von Heimatliteratur verfügt und sich auch darin zurechtfindet und auskennt. Besser jedenfalls als der Gast aus Berlin, der hier einmal daheim war und wieder vergessen hat, was man ihm einmal mühsam in Heimatkunde beigebracht hatte. Da sucht er also Rettung, nachdem er ratlos durch diese schöne, ach so bekannte, ach so unbekannte gebuckelte Stadt gewandert war. Und im Rathaus, im zweiten Stock dieses schönen Renaissancebaues aus dem 16. Jahrhundert, gebietet eine freundliche Dame über ein kleines, übersichtlich geordnetes Heimatmuseum. Dort ist das schönste Stück ein bäuerliches Himmelbett, darauf steht: 

„Gottesgnad und ein gesunder Leib,
ein warmes Bett und ein hübsches Weib,
ein guth gewißen und baar Geld,
das ist das beste auf der Weld.“ 

Ich will's beherzigen. Dass das Gewissen klein und das Geld groß geschrieben wurde, mag den scharfsinnigen Leser zu manchem Nachdenken veranlassen, während ich hinunter auf den Marktplatz sehe, der sicher einer der schönsten Marktplätze Thüringens ist. Und ich höre zu, was mir berichtet wird: dass in dieser Stadt im Mittelalter nur Bürger sein konnte, wer auch Grundbesitz außerhalb der Stadtmauern hatte. Diesen Grundbesitz halten aber konnte nur, wer über genügend Knechte verfügte. Über genügend Knechte verfügen aber konnte nur der, der genug Geld hatte. Genug Geld gewann aber nur jener, der mit Fleiß und Geschick und Glück und Gunst und Heirat schließlich Handwerk und Handel unter einen Hut zu bringen verstand.
Marx hat mehr darüber geschrieben.
Dieser Markt, steingewordener Bürgerstolz, geschlossenes Bauensemble bürgerlichen Wohlstands – wie ist er mir in Erinnerung? Als Jahrmarkt mit der Attraktion des „Billigen Jakob“, den ich anstaunte ob seiner Marktschreierei, und mit dem Duft der Rostbratwürste, die ich selig genoss. Als Kind ist einem Kunst eben wurscht und Wurst Kunst.
Während meiner Schülerzeit, zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr, als ich im Internat wohnte, fand sich, wer „auf den Bummel“ ging, auf dem Marktplatz ein. Dort spazierten die Mädchen, dort hatten nach den Kommersregeln des Schülerturnvereins „Friesen“ die jüngeren Schüler die älteren zu grüßen. Und deshalb gingen die jüngeren Schüler nie „auf den Bummel“. Sie liefen zum Römersbach, einem waldähnlichen Park oder parkähnlichen Wald nordwestlich der Stadt. Dort landeten auch die älteren Schüler, nachdem sie „auf den Bummel“ gegangen waren, mit ihren Mädchen, und dort sollte man nicht grüßen, und dort machte es Spaß, zu grüßen.
Das ist nun fast vierzig Jahre her, eine lange Zeit im Leben eines Menschen, eine kurze Zeit im Leben der Stadt. ( ... ) 

Mit freundlicher Genehmigung von Günther Deicke für den Band
Hans-Jürgen Salier und Bastian Salier

Hildburghäuser Lesebuch

Verlag Frankenschwelle GmbH & Co. KG, Hildburghausen, 1. Aufl. 1999

 

Besucher insgesamt: linkbuilding